White Paper

KI-Techniken für elektrische Technologien

Welche Bedeutung hat KI für die Elektrifizierung?

Dank bedeutsamer Innovationen und Fortschritte bei den elektrischen Technologien wird die Energiewende von fossilen Brennstoffen hin zu sauberer Energie beschleunigt und die Elektrifizierung aller Bereiche ermöglicht. Bahnbrechende Fortschritte in puncto Leistungsdichte und Effizienz, Verbesserungen bei der Ausfallsicherheit sowie die Reduzierung von Größe und Kosten der elektrischen Komponenten bieten Ingenieuren ein bisher unerreichtes Maß an Entwicklungsflexibilität.

Gleichzeitig stellen der zunehmende Ausbau erneuerbarer Energien, die Dezentralisierung der Energieinfrastruktur, die wachsende Elektrifizierung des Mobilitätssektors und die wachsende Gefahr von Versorgungsunterbrechungen aufgrund des Klimawandels neue Problemfelder dar, die bei der Entwicklung und dem Betrieb elektrischer Systeme berücksichtigt werden müssen.

Die Anwendung von Techniken der künstlichen Intelligenz (KI) ist ein neuer Lösungsansatz für Ingenieure, um diese Herausforderungen zu bewältigen.

Sie können KI in die Entwicklung und den Betrieb elektrischer Technologien integrieren, um die Zuverlässigkeit zu erhöhen und die Effizienz von Anwendungen zu verbessern, die von der Motorsteuerung und dem Batteriemanagement für Elektrofahrzeuge bis zur Einspeisung erneuerbarer Energie in das Stromnetz reichen. Beispiele für den Einsatz von KI-gestützten Techniken sind unter anderem:

  • Modellierung mit reduzierter Ordnung (ROM)
  • Regelungsstrategien
  • Virtuelle Sensoren
  • Energievorhersagen
  • Vorausschauende Instandhaltung
Abschnitt

KI für die Entwicklung

KI eröffnet ein erhebliches Potenzial für:

  • Die Reduzierung der Rechenzeit bei Simulationen.
  • Die Charakterisierung einzigartiger Komponenten, die mithilfe klassischer Verfahren nur schwer zu modellieren sind.
  • Eine effektive Alternative zu physischen Sensoren.
  • Die Realisierung von leistungsfähiger Regelungstechnik für komplexe, nichtlineare Systeme.

Modellierung mit reduzierter Ordnung

Für Workflows, die umfangreiche Berechnungen erfordern, wie z. B. die Design Exploration, können Sie auf KI zurückgreifen, um Modelle mit reduzierter Ordnung (ROM) anstelle realitätsnaher Modelle des ursprünglichen physischen Systems zu erstellen, so z. B. bei bürstenlosen Motoren. Einige elektrische Komponenten, wie beispielsweise Geräte in Stromversorgungssystemen, weisen neuartige und einzigartige Eigenschaften auf, die mit klassischen Techniken nur mühsam zu modellieren sind. KI-basierte ROMs ermöglichen dabei die Erfassung des wesentlichen Verhaltens solcher Komponenten und Systeme und beschleunigen zugleich die Simulationen erheblich.

Mit MATLAB® und Simulink® können Sie ein physikalisches Modell nach Ab-Initio-Prinzipien, das mit Simscape™ oder FEM/FEA-Simulationen von Drittanbietern erstellt wurde, verwenden, um synthetische Daten für das Training eines KI-basierten Modells mit reduzierter Ordnung zu erzeugen. Mithilfe von Simscape ist es zudem möglich, Modelle von physikalischen Systemen in Simulink zu erstellen, die verschiedene Bereiche wie Elektrik, Mechanik, Hydraulik und viele weitere umfassen. Simscape Electrical™ bietet Komponentenbibliotheken zur Modellierung und Simulation elektronischer, mechatronischer und elektrischer Energiesysteme.

Anhand der Simulationsergebnisse werden die physikalischen Interaktionen des Systems erfasst. Das KI-basierte ROM, das Sie mithilfe dieser Ergebnisse trainieren, wird auch die Systemdynamik widerspiegeln. Sobald Sie ein trainiertes ROM haben, können Sie dieses in ein Modell auf Systemebene integrieren und das ROM als Alternative zu einem genaueren, aber langsameren physikalischen Modell in der Simulation verwenden. 

So können Sie beispielsweise mit Simscape einen Motor und eine Motorwellenlast modellieren und daraus synthetische Daten erzeugen, indem Sie Simulationen mit dem physikalisch basierten Modell nach wissenschaftlichen Grundprinzipien durchführen. Nachdem Sie die entsprechenden Trainingsdaten gesammelt haben, können Sie in MATLAB aus einer Vielzahl von KI-Algorithmen wählen, um ein ROM zu trainieren.

Je nach Ihren Anforderungen an die Modellierung können Sie zwischen klassischen Machine-Learning-Modellen (z. B. Support-Vector-Maschinen, Regressionsbäumen oder flachen neuronalen Netzen) und Deep-Learning-Modellen (z. B. tiefen neuronalen Netzen) wählen, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Genauigkeit, Trainingsgeschwindigkeit, Inferenzgeschwindigkeit und Erklärbarkeit zu erreichen.

Nach erfolgtem Training lässt sich das trainierte KI-Modell anschließend aus MATLAB importieren und in Simulink verwenden. Zur Überprüfung der Leistung des KI-Modells können Sie die Ergebnisse des KI-Modells mit Testdaten vergleichen, die aus der physikalischen Simulation generiert wurden, oder mit realen Daten aus der Produktion.

Zwei Motor- und Lastsystemdiagramme, eines mit einem physikalischen Modell, das andere mit einem KI-basierten Modell mit reduzierter Ordnung.

Erstellung eines KI-gestützten Modells mit reduzierter Ordnung für ein Lastmodell in Simulink. Das KI-Modell basiert auf einem tiefen neuronalen Netz mit Long Short-Term Memory (LSTM).

Modellierung virtueller Sensoren

Bei der Implementierung von Regelungen für elektrische Geräte oder Systeme ist es zuweilen unmöglich oder unpraktisch, relevante Signale mit einem physischen Sensor zu messen. In diesen Szenarien werden KI-Modelle eingesetzt, um virtuelle Sensoren zur Einschätzung kritischer Signale zu erstellen.

So lassen sich beispielsweise KI-basierte virtuelle Sensoren verwenden, um die Position, Geschwindigkeit und Temperatur eines Motors abzuschätzen und physische Sensoren wie einen Motorgeber oder einen Temperatursensor überflüssig zu machen.

Mit MATLAB und Simulink ist es möglich, KI-Algorithmen innerhalb eines Simulink-Modells einzusetzen, um entscheidende Betriebseigenschaften elektrischer Systeme vorherzusagen. Sie können zum Beispiel den Ladezustand (SOC) und Betriebszustand (SOH) eines Batteriesystems abschätzen. Der Batterie-SOC (Ladezustand) ist eine zentrale Information für die Regelung eines Batteriemanagementsystems und muss deshalb genau geschätzt werden, um einen zuverlässigen und effizienten Betrieb des Batteriesystems zu gewährleisten.

Ein Diagramm eines KI-basierten Ladezustandsschätzers für Batterien.

Erstellung eines auf Deep Learning basierenden virtuellen Sensors zur Schätzung des Batterieladezustands (SOC) in Simulink.

Für klassische Methoden, die auf dem erweiterten Kalman-Filter-Algorithmus (EKF) basieren, sind in der Regel genaue Parameter und Kenntnisse der physikalischen Eigenschaften erforderlich. Im Gegensatz dazu ist eine KI-Methode, wie beispielsweise ein neuronales Netz, ein datengesteuerter Ansatz, der nur minimale Kenntnisse über die physikalischen Details erfordert. Darüber hinaus bieten KI-basierte Methoden einen Lösungsansatz, der keine wiederkehrenden Kosten verursacht, nicht invasiv ist und keine Wartung erfordert.

Nachdem Sie die Modellierung und Validierung Ihres KI-basierten virtuellen Sensormodells abgeschlossen haben, können Sie mit Embedded Coder® optimierten, serienreifen C/C++ Code aus dem KI-Modell erzeugen und den Algorithmus auf einen Mikrocontroller übertragen.

Regelungsstrategie

KI-gestützte Regelungssysteme, insbesondere solche, die auf Techniken des Reinforcement Learning (RL) beruhen, weisen gegenüber den klassischen Methoden einige wesentliche Vorteile auf. KI-gestützte Strategien:

  • Versprechen leistungsfähige Regelungen komplexer, nichtlinearer Systeme mit mehreren Eingängen und Ausgängen (MIMO).
  • Erfordern lediglich geringe Vorkenntnisse über die Funktionsweise der Regelstrecke.
  • Lassen sich in großem Umfang auf andere komplexe elektrische Systeme anwenden, z. B. auf die Regelung von Energiespeicher- und Stromversorgungssystemen.

„Die Reinforcement Learning Toolbox hat die Entwicklungszeit erheblich verkürzt. Mithilfe der Toolbox konnten wir in kürzester Zeit erste Prototypen erstellen und Agenten für das Reinforcement Learning generieren.“

Vivek Venkobarao, Vitesco

Sie können die Anlagendynamik in Simulink und Simscape modellieren und Ihr Modell verwenden, um einen Reinforcement-Learning-Agenten (RL-Agenten) zu trainieren. Die Reinforcement Learning Designer-App bietet Ihnen eine intuitive, interaktive Möglichkeit, mit der Erstellung von Agenten und der Entwicklung von Umgebungen unter Verwendung der Reinforcement Learning Toolbox™ zu beginnen. Sie können auch Ihren eigenen RL-Agenten sowie die RL-Umgebung spezifizieren, indem Sie das Verhalten des Agenten übersteuern und Aktionen, Beobachtungen, Belohnungsfunktionen und die Dynamik der Umgebung individuell anpassen.

Mit MATLAB und Simulink lässt sich beispielsweise die feldorientierte Steuerung eines Permanentmagnet-Synchronmotors mithilfe von Reinforcement-Learning-Regelungen anstelle von PI-Reglern realisieren, indem ein Reinforcement-Learning-Agent trainiert wird. Bei linearen Reglern ist das Tracking-Verhalten außerhalb des Linearitätsbereichs oft nicht optimal. In solchen Fällen bietet das Reinforcement Learning eine geeignete Alternative zur nichtlinearen Regelung.

Ein Simulink-Diagramm für Echtzeit-Systemtests.

Erstellung einer auf Reinforcement Learning basierenden feldorientierten Regelung eines Permanentmagnet-Synchronmotors in Simulink und deren Bereitstellung für Echtzeittests.

Abschnitt

KI für den operativen Bereich

KI-Methoden verbessern den Betrieb elektrischer Systeme, indem sie Folgendes ermöglichen:

  • Verlässliche Energieprognosen
  • Vorausschauende Instandhaltung von elektrischen Komponenten und Systemen

Energievorhersagen

KI-basierte Energieprognosen liefern wertvolle Informationen, um Unwägbarkeiten im Stromnetzbetrieb zu mindern. Mit den Methoden der künstlichen Intelligenz lassen sich beispielsweise Stromlasten, -nachfrage und -preise vorhersagen, wodurch die Risikoanalyse und das Risikomanagement beim Betrieb des Stromnetzes erleichtert werden.

„Wir konnten die Kosten für die Abweichung zwischen der prognostizierten Windenergie und der tatsächlichen Produktion erheblich reduzieren, was zu Einsparungen in Höhe von mehreren Millionen Euro pro Jahr führte.“

Daniel Cabezón, EDP Renováveis

MATLAB und Simulink unterstützen Sie bei der Nutzung von KI-Modellen, um Daten in das physikalische Systemmodell zu übertragen und einen intelligenten Systembetrieb zu ermöglichen. Für Energiemanagementsysteme spielt die Energieprognose eine Schlüsselrolle bei der Bereitstellung zuverlässiger Schätzungen von technisch-wirtschaftlichen und umweltbezogenen Faktoren wie Stromnachfrage und -erzeugung, Strompreis und Wetterbedingungen (wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit), die für die Optimierung des Systembetriebs von Bedeutung sind.

Zur Durchführung von Energieprognosen in MATLAB sind vier Schritte erforderlich:

  1. Importieren Sie Energie- oder Wetterdaten aus einer oder mehreren Datenquellen. Mit MATLAB können Sie auf Energiedaten, die in Dateien, im Internet oder in Data Warehouses gespeichert sind, zugreifen, diese untersuchen und importieren.
  2. Führen Sie eine Vorverarbeitung der Daten durch, damit sie in einem sauberen, konsistenten und lesbaren Format für die Modellierung vorliegen. MATLAB bietet interaktive Tools zum Bereinigen, Untersuchen, Visualisieren und Kombinieren komplexer multivariater Datensätze.
  3. Prototypisieren, testen und verfeinern Sie Vorhersagemodelle in MATLAB mithilfe von Methoden des Machine Learning. So können Sie beispielsweise ein dynamisches, selbstoptimierendes Modell zur Vorhersage der langfristigen Energiebelastung erstellen.
  4. Integrieren, betreiben und skalieren Sie das Energieprognosesystem innerhalb von Unternehmenssystemen oder als interaktive Webanwendungen.

In Simulink können Sie Folgendes tun:

  • Integrieren des KI-basierten Energieprognosemodells in Ihr Energiemanagementsystem, um wichtige Informationen für den intelligenten Betrieb von Wohn- und Geschäftsgebäuden zu erhalten.
  • Den Prognosealgorithmus und die Energiemanagementstrategien anhand des elektrischen Systems validieren.
  • Hardware-in-the-Loop (HIL)-Simulationen durchführen.
  • Lesbaren, effizienten C/C++ Code aus dem Modell des Energiemanagementsystems in Simulink für die Bereitstellung auf Edge-Geräten, wie z. B. einem eingebetteten Prozessor, generieren.
Eine Karte des US-Bundesstaats New York mit grafischen Darstellungen von Energieprognosedaten.

Erstellung eines Energieprognosesystems mithilfe von Machine Learning und eine anschließende Bereitstellung als Webanwendung.

Vorausschauende Instandhaltung

Um die Zuverlässigkeit zu gewährleisten und Ausfallzeiten zu reduzieren, setzen Energieversorgungsunternehmen zunehmend auf eine KI-basierte vorausschauende Instandhaltung. Mit dieser vorausschauenden Instandhaltung können Ingenieure sowohl Fehler und Anomalien erkennen und klassifizieren als auch Ausfälle diagnostizieren und vorhersagen sowie die Restnutzungsdauer (RUL) wichtiger elektrischer Komponenten und Systeme wie das Stromnetz und unterirdische Versorgungskabelsysteme abschätzen.

Mithilfe von Simulink und Simscape können Sie Algorithmen für die vorausschauende Instandhaltung anhand historischer Sensordaten aus elektrischen Anlagen trainieren oder synthetische Daten aus physikbasierten Modellen erzeugen.

Fehlerdaten sind nur schwer zu erhalten, da Fehlerszenarien nur selten vorkommen und in der Regel mit Anlagenschäden oder anderen gravierenden Folgen verbunden sind, weshalb Fehlerdaten von besonderer Bedeutung für das Training von KI-Modellen zur vorausschauenden Instandhaltung sind. Mit MATLAB und Simulink können Sie Fehler in das Systemmodell einfügen und Daten aus dem Modell sowohl unter normalen als auch unter Fehlerbedingungen erzeugen.

Nachdem Sie den KI-Algorithmus anhand von Fehlerdaten oder Sensordaten (oder einer Kombination aus beidem) trainiert haben, können Sie direkt aus dem Algorithmus heraus C/C++ Code für die Edge-Verarbeitung in Echtzeit generieren oder durch die Integration mit IT/OT-Systemen des Unternehmens in der Cloud skalieren.

„Auch mit wenig Vorwissen zu KI konnten wir mit begrenztem Budget und innerhalb einer engen Frist ein Diagnosemodell in MATLAB erstellen, das den Ausfall einer Windturbinenkomponente mit über 90% Genauigkeit erkennt.“

Jung Chul Choi, Korea Institute of Energy Research