Das Brain-Computer Interface: Erfassung und Verarbeitung von Biosignalen mit MATLAB und Simulink
Von Günter Edlinger, g.tec Medical Engineering GmbH und Christoph Guger, g.tec Medical Engineering GmbH
Beethoven war erst 27, als er langsam taub wurde. Während Musikhistoriker behaupten, die durch die Taubheit verursachte Isolation habe seine Kreativität gefördert und ihn zu einem noch größeren Komponisten gemacht, brachte der Verlust des Hörvermögens den als gesellig bekannten Musiker jedoch oft an den Rand der Verzweiflung.
Wie wäre Beethovens Leben wohl verlaufen, wenn er direkt mit einem elektronischen Klavier hätte kommunizieren können, das seine Gehirnsignale interpretieren und seine Kompositionen aufzeichnen könnte?
Ein so genanntes „Brain-Computer Interface“ (BCI) stellt eine alternative Kommunikations-Schnittstelle zwischen dem menschlichen Gehirn und einem Computer dar. Es wandelt Gehirnwellen mit Hilfe von Methoden zur Mustererkennung in Steuersignale um. Die auf diesem Gebiet tätigen Forscher erhoffen sich von dieser Technologie eine Verbesserung der Lebensqualität für Menschen, die gelähmt sind oder Sinnesverluste erlitten haben. Interdisziplinäre Forschungsteams aus der Medizin, der Psychophysiologie und der Medizin- und Informationstechnik arbeiten derzeit am Einsatz nichtinvasiver Methoden, um Körperfunktionen des Menschen zu überwachen und möglicherweise sogar zu steuern, und setzen dazu modernste Messgeräte, Computer und Software ein.
Die österreichische Firma g.tec Medical Engineering GmbH hat eine Plattform für die Echtzeit-Verarbeitung von Biosignalen sowie eine Reihe nichtinvasiver und minimalinvasiver Geräte zur Überwachung der Augenbewegung sowie der Herz-, Muskel- und Gehirnaktivität entwickelt. Diese futuristisch anmutenden Werkzeuge basieren auf der Kombination der flexiblen Datenverarbeitungs-Funktionalität von MATLAB und der Fähigkeiten von Simulink auf dem Gebiet der Entwicklung von Echtzeit-Systemen.
Echtzeit-Klassifizierung von Gehirnsignalen
Ein BCI muss flexibel genug sein, um sich an die individuellen Bedürfnisse des Patienten anpassen und dennoch in Echtzeit arbeiten zu können. Das BCI von g.tec, g.BCIsys, fußt auf den Rapid-Prototyping-Fähigkeiten von MATLAB und Simulink, mit denen Software-Komponenten schnell überprüft, weiterentwickelt und angepasst werden können. Dies erlaubt die einfache Implementierung von Algorithmen zur exakten Datenerfassung sowie zur Online-Verarbeitung und Konditionierung einer ganzen Reihe biomedizinisch relevanter Signale. Die Online-Analyse solcher Signale ermöglicht es Wissenschaftlern bestimmte Signaleigenschaften bereits während der Aufzeichnung mit nur minimaler Verzögerung zu berechnen, anzuzeigen und zu speichern.
Ein Bestandteil des g.BCIsys ist das g.USBamp, ein DSP-basiertes System zur Erfassung von Biosignalen mit einer Auflösung von 24 Bit, das die Signalkonditionierung übernimmt und die Elektrodensignale verstärkt, filtert und digitalisiert. Es verfügt über ein modulares Mehrkanalsystem, mit dem sich wahlweise gleichzeitig Elektroenzephalogramme (EEG), Elektromyogramme (EMG), Elektrooculogramme (EOG) und Elektrokardiogramme (EKG) aufzeichnen lassen. Mit Zusatzmodulen können die gesammelten Daten außerdem in Echtzeit analysiert werden. Die vom BCI generierten Steuersignale können für psychologische und physiologische Experimente oder auch für die Rehabilitationstechnik genutzt werden, z.B. zur Steuerung von Orthesen und Prothesen (siehe das Beispiel der „Musical Brain Cap“).
Funktionsweise des g.tec BCI
Das BCI sammelt Daten an verschiedenen Stellen des Kopfes und bestimmt daraus die Gehirnaktivität. Um z.B. ein EEG aufzunehmen, bringt man kleine Gold-, Silber- oder Silberchlorid-Elektroden an der Kopfhaut des Probanden an. Das g.BCIsys verstärkt die im Mikrovoltbereich liegenden Spannungen der Gehirnsignale, wandelt sie in digitale Signale um und übergibt sie über eine USB 2.0-Schnittstelle an einen PC oder ein Notebook, wo sie analysiert werden. Das g.BCIsys enthält unter Simulink ausgeführte Module, die bestimmte EEG-Muster im Echtzeit- oder Hochgeschwindigkeits-Modus erkennen und klassifizieren können und die Rohdaten in Steuersignale umwandeln.
Um verschiedene Signalverarbeitungs-Prozeduren und Regelungsstrategien einfacher implementieren zu können, ist der Zugriff auf die vom g.USBamp gesammelten Daten wahlweise aus MATLAB mit der Data Acquisition Toolbox (s. Abb. 1) oder über einen speziellen S-function-Block unter Simulink möglich. Signale im Spannungsbereich von +/- 250 mV können mit Abtastraten von einem Hertz bis hinauf zu 38 kHz erfasst und zusätzlich einer Hochpass- oder Tiefpassfilterung unterzogen werden.
Gedankensteuerung eines Cursors
g.BCI.sys ist durch eine Stimulationseinheit (g.STIMunit) erweiterbar, die einem Probanden das Ergebnis einer Signalklassifikation anzeigt oder Steuersignale an externe Geräte wie Orthesen weitergibt. Mit g.STIMunit kann eine Testperson lernen, mittels des BCI einen Cursor in Form eines horizontalen Balkens auf einem Monitor zu bewegen, indem sie sich Hand- oder Fußbewegungen vorstellt. Dies ist möglich, weil sich die Gehirnwellenmuster im sensomotorischen Cortex schon bei der Vorstellung einer bestimmten Tätigkeit auf charakteristische Weise verändern. Die dabei auftretenden Hirnstromveränderungen können durch Gewichtung von Spektralparametern in verschiedenen Frequenzbändern an unterschiedlichen Elektrodenpositionen klassifiziert werden.
Zur Steuerung des Cursors wird das EEG mit Elektroden gemessen, die so auf der Kopfhaut angeordnet sind, dass sie die zentralen Hirnregionen überdecken. Wenn der Proband sich eine Bewegung der rechten Hand vorstellt, verändert sich das EEG über der linken Gehirnhälfte (die zugehörige Elektrodenposition ist „C3“). Eine imaginäre Bewegung der linken Hand dagegen verändert das EEG über der rechten Gehirnhälfte (an der Elektrodenposition „C4“).
In der Trainingsphase übt eine Testperson mit g.STIMunit, ihre EEG-Muster gezielt zu verändern, wozu das Modul ihr einen horizontalen Balken auf einem Monitor zeigt. Wenn der Proband sich eine Bewegung der rechten Hand vorstellt, verändert sich das Muster an C3 und die Software von g.STIMunit verlängert den Balken nach rechts. Bei Vorstellung einer Bewegung der linken Hand verändert sich das Muster an C4 und der Balken wird nach links verlängert.
Aber nicht nur die Testperson muss lernen, das EEG-Signal durch ihre Vorstellungskraft zu beeinflussen. Auch das BCI muss darauf trainiert werden, nur auf relevante Veränderungen der Elektrodensignale zu reagieren. Das Diagramm in Abbildung 2 zeigt den entsprechenden Versuchsaufbau.
Signalverarbeitung und Rapid Prototyping
Um das BCI zu trainieren, müssen die Forscher charakteristische Merkmale der EEG-Signale durch Schätzung der Amplitudenverteilung des EEG in festgelegten Frequenzbändern extrahieren. Das g.BCIsys verfügt über zwei Schätzmethoden für die Bandamplituden:
- Der Simulink ‘BandPower’-Block schätzt die Amplitude in zwei Frequenzbändern: dem Alphaband (8–13 Hz) und dem Betaband (16–24 Hz).
- Der Simulink ‘AAR Parameters’-Block schätzt Modellparameter eines adaptiven autoregressiven Modells mit Hilfe einer rekursiven Kleinste-Quadrate-Methode.
Im Beispiel in Abbildung 3 führt der Simulink BandPower-Block eine Online-Signalanalyse durch, die die EEG-Daten in zwei Klassen einteilt: RECHTS und LINKS. Die BCI Übungssoftware stützt sich auf diese Klassifikation zur Verlängerung des horizontalen Balkens. Die Richtung, in der der Balken sich verändert, indiziert also die Signalklassifikation in „RECHTS“ und „LINKS“, während die Länge des Balkens die Eindeutigkeit der Klassifikation widerspiegelt.
Genauigkeit des BCI
Das BCI wurde an 300 Testpersonen zwischen 15 und 65 Jahren erprobt. Die Probanden trainierten zunächst den Computer und versuchten dann, den Cursorbalken auf dem Bildschirm zu steuern (Abbildung 4). Die Fehlerrate wurde nach jeweils 40 Durchläufen pro Person bestimmt. Fast 93% der Probanden konnten das BCI mit einer Genauigkeit von etwa 60% steuern, die restlichen sieben Prozent erreichten eine Genauigkeit von über 90%.
Die von g.tec entwickelte Plattform wird von Forschern auf der ganzen Welt in Labor- und klinischen Studien zur Erfassung und Verarbeitung von Biosignalen verwendet. Sowohl Hardware als auch Software erfüllen die hohen medizinischen Anforderungen und bilden eine flexible und anpassungsfähige Entwicklungsumgebung für eine ganze Reihe verschiedener Anwendungen in Forschung und Entwicklung.
Die “Musical Brain Cap”
Professor Miranda Reck von der Universität Plymouth, Großbritannien, ist selbst Komponist und hat ein Brain-Computer Music Interface (BCMI) entwickelt. Das BCMI komponiert Musikstücke mit Hilfe von Informationen, die es aus EEGs entnimmt, und spielt sie dann auf einem automatisierten Klavier.
Die “Musical Brain Cap” extrahiert mit Hilfe des g.tec BCI Merkmale aus EEGs von Testpersonen. Die Amplituden in verschiedenen Frequenzbändern steuern ein generatives System, das Musik „On-the-Fly“ nach Regeln einer musikalischen Grammatik komponiert. Der Simulink Hjorth-Block bestimmt die Komplexität der EEG-Signale und regelt damit das Tempo des Musikstückes (je komplexer das Signal, umso schneller der Takt, s. Abb. A).
Das generative System komponiert Abfolgen kurzer Musikstücke, deren Ausprägung durch eine von vier grammatischen Regeln bestimmt wird, die je nach der geistigen Aktivität des Probanden ausgewählt werden. Befindet sich die Testperson z.B. im Zustand tiefster Entspannung, wird Regel 1 angewandt, im entspannten Wachzustand dann Regel 2, usw. (Abb. B).
Die Ausgabe dieses Systems zur Musikerzeugung wird über eine MIDI-Schnittstelle an ein mechanisches Klavier übergeben, welches das komponierte Musikstück spielt.
Veröffentlicht 2006