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Wiederherstellung der Beweglichkeit von Patienten mit neuromuskulären Behinderungen durch Funktionelle Elektrostimulation

Von Stephen Trier, Cleveland FES Center and Case Western Reserve University Department of Biomedical Engineering, Tina Vrabec, Cleveland FES Center and Case Western Reserve University Department of Biomedical Engineering, und Jeff Weisgarber, Cleveland FES Center and Case Western Reserve University Department of Biomedical Engineering


Für Patienten mit neuromuskulären Beeinträchtigungen kann die Funktionelle Elektrostimulation (FES) den früher unerfüllbaren Traum wahrmachen, gelähmte Arme und Beine wieder bewegen zu können. Je nach betroffenen Körperteilen und der Schwere einer Behinderung kann die FES dem Patienten Fähigkeiten wie eigenständiges Gehen, das Greifen von Objekten oder die Kontrolle über seine Blasenfunktion wiedergeben und damit seine Lebensqualität deutlich verbessern.

FES-Geräte senden elektrische Impulse an Elektroden, die entweder implantiert wurden oder auf der Haut getragen werden bzw. durch sie hindurch wirken, und erzeugen oder kontrollieren dadurch Bewegungen. Zwar weiß man heute sehr gut, welche Wirkung die Elektrostimulation auf gelähmte Muskeln und Nerven hat, steht aber weiterhin vor der Herausforderung, dies auch nutzbringend in individuellen Einzelfällen anwenden zu können.

Ein Team der Case Western Reserve University hat die Universal External Control Unit (UECU) entwickelt, eine flexible und konfigurierbare System-Plattform für FES-Anwendungen. Mit der UECU können Klinik-Ingenieure die FES-Controller vor Ort neu einstellen und erhalten dadurch sofort greifbare Ergebnisse. Verbesserungen brauchen so nur etwa ein Zehntel der bisher nötigen Zeit.

Im Kern der Entwicklung der UECU standen drei Ziele. Erstens sollte die UECU-Hardware und -Software modular und flexibel genug sein, um ein möglichst breites Spektrum von FES-Anwendungen zu ermöglichen. Zweitens musste die Ent-wicklungsumgebung es Forschern und Rehabilitations-Ingenieuren mit geringen Programmierkenntnissen gestatten, Prototypen rasch zu entwerfen und Forschungs-ergebnisse schnell in brauchbare klinische Systeme zu übertragen. Drittens sollte die UECU sowohl im Labor als auch im klinischen Betrieb und beim Patienten zu Hause effizient arbeiten.

Funktionelle Elektrostimulation

Forscher des Cleveland FES Center haben FES-Geräte für verschiedene Anwendungen entwickelt, die u. a.:

  • Hand- und Armfunktion bei Patien-ten mit Tetraplegie wiederherstellen
  • Querschnittsgelähmten das Stehen und Gehen ermögliche
  • Die motorische Kontrolle und das Gangbild von Schlaganfallpatien-ten verbesser
  • Blasen- und Darmfunktionen wie-derherstelle
  • Den Gewebestatus durch Verhinderung von Druckgeschwüren verbessern

Bei allen Anwendungen werden Bewegungen durch eine Kombination eines oder mehrerer implantierter Stimulatoren bzw. in oder auf der Haut angebrachter Elektroden angeregt.

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FES-Geräte greifen direkt in elektrische Signale ein, durch die Nerven und Muskelgewebe stimuliert werden, und helfen so, die Beweglichkeit gelähmter Muskeln wiederherzustellen. Die Geräte übersetzen Eingaben von Signalgebern oder anderen Geräten, die der Patient selber steuern kann, in komplexe Reizmuster, die dann die gelähmten oder vom Patienten nicht willentlich steuerbaren Muskeln zur gewünschten Bewegung anregen. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Entwicklung des UECU-Blockset

Simulink war von Anfang an Teil des Projekts. Als Proof-of-Concept wurde ein Freescale Evaluierungsboard mit dem Prototypen eines Steuerungsmoduls für Implantate verbunden und über selbst geschriebene S-Functions gesteuert. In Simulink erzeugte das Team ein einfaches FES-Controllermodell und gene-rierte daraus Code mit Real-Time Workshop. Das Konzeptsystem bewies, dass sich Stimulationspulse in Echtzeit mittels eines Simulink-Modells steuern ließen.

Es folgte die Entwicklung und Verfeinerung der Software. Hardware-Ingenieure entwarfen die Elektronik und Software-Entwickler unterteilten die Fähigkeiten der UECU in Block-Komponenten. So entstand ein eigenes Simulink-Blockset mit über 75 Blöcken, aus denen Forscher FES-Anwendungen zusammenfügen können. Es enthält Blöcke für den Zugriff auf Eingaben – etwa von analogen Geräten, Gelenkwinkelsensoren, myoelektrischen Signalen und einfachen Knöpfen –, Blöcke zur Erzeugung von Stimulationspulsen und Blöcke für Meldungen der UECU durch Ton- oder Lichtsignale.

Zusammen mit dem Blockset wurde außerdem durch Abwandlung des generischen Real-Time Target für Simulink ein spezielles Real-Time Workshop-Target entworfen, das den C-Compiler und andere Tools passend zur UECU konfiguriert. Durch dieses Target können Ingenieure im Krankenhaus ein Simulink-Modell mit einem einzigen Build-Befehl in ein kompiliertes, auf der UECU lauffähiges Programm umwandeln.

Beschleunigung der Entwicklung von FES-Anwendungen

Mithilfe der UECU-Blockbibliothek können die Forscher Software für FES-Steuerungen modular und damit bis zu zehnmal so schnell entwickeln wie bisher.

FES-Anwendungen wurden bislang von hierfür geschulten Programmierern in C entwickelt. Diese Entwicklergruppe war für mehrere, auf unterschiedliche Behinderungen spezialisierte klinische Arbeitsgruppen zuständig. Wünschte eine solche Gruppe eine neue Funktion oder Fähigkeit, gab sie dies an die Entwickler weiter, wartete auf die neue Software-Version und testete diese dann am Patienten. Die Programmierung in C ist zwar flexibel, der gesamte Programmierpro-zess war indessen langwierig und verschleppte dadurch die Entwicklung von der Idee bis zur Realisierung. Schlimmer wog aber, dass die Programmierer oft nicht gleich verstanden, was genau von ihnen verlangt wurde. Eine nutzbringende Veränderung nahm daher häufig mehrere Iterationen in Anspruch.

Durch die Simulink-basierte UECU kann sich die zentrale Entwicklergruppe nun ganz auf den Aufbau und die Pflege eines einzelnen Systems konzentrieren. Dieses System ist so flexibel und einfach zu bedienen, dass jede klinische Arbeitsgruppe ihre eigenen FES-Anwendungen in kürzester Zeit entwickeln und verfeinern kann (Abb. 1).

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Abb. 1. Diese von einem Klinikarzt entwickelte Anwendung steuert einen implantierten Stimulator, durch den ein Patient die Kontrolle über Arm und Hand wiedergewinnt. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Rapid Prototyping

Aus fertigen Entwürfen in Simulink generieren die Forscher mit Real-Time Workshop Programmcode. Neue Ideen werden häufig durch Rapid Prototyping mit xPC Target getestet, weil sich so einfachere Floating-Point-Entwürfe auf PC-kompatibler Hardware validieren lassen, bevor man die Implementierung auf portable Fixed-Point-Hardware überträgt.

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Abb. 2. Ein Arzt stellt die Stimulus-Parameter des FES-Gerätes eines gelähmten Patienten ein. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Nachdem das Grundkonzept des Controllers entwickelt wurde, erfolgt die Feinabstimmung der Stimulusparameter, mit denen er die Muskeln des Patienten kontrolliert (Abb. 2).

Die UECU ist mit persistentem Speicher ausgestattet, in dem die Stimulusdaten als Tabelle abgelegt sind. Bei einer Armsteuerung etwa dient diese Tabelle zur Übersetzung eines skalaren Steuersignals in einen Vektor mit 8 bis 16 Werten, die die auf die Nerven und Muskeln des Arms aufgebrachten Pulse definieren. Zur Optimierung dieser Reizprofile werden die Signalstärken für einen Startpunkt auf vorläufige Werte gesetzt und dann anhand der Reaktionen des Arms des Patienten verfeinert (Abb. 3). Weil Muskeln mit der Zeit stärker oder schwächer werden, muss man diesen Prozess von Zeit zu Zeit wiederholen, damit das FES-System effektiv arbeitet.

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Abb. 3. Mit diesem Profil-Editor lassen sich schnell und einfach neue Reizprofile erstellen und FES-Anwendungen feinabstimmen. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Von der Idee zur Implementierung in einem Tag

Ein Fall aus der Zeit einer der ersten Versionen einer myoelektrischen Steuerung verdeutlicht, wie schnell sich heute neue Ideen im klinischen Alltag umsetzen lassen. Ein auswärtiger Patient war der erste, bei dem eine Steuerung eingesetzt werden sollte, die die elektrische Aktivität eines völlig gesunden Muskels zur Kontrolle eines gelähmten Muskels nutzt. Der Controller arbeitete zu dieser Zeit allerdings noch nicht so gut wie die heutige Version und das System funktionierte nicht wie gewünscht.

Dennoch wollte das Team den Patienten mit einem System heimschicken, mit dem er seine Hände auch benutzen konnte. Am letzten Tag seines Aufenthalts hatte einer der Rehabilitations-Ingenieure eine Idee: Warum sollte man nicht eine durch Pusten und Saugen bediente Strohhalm-Steuerung ausprobieren, wie sie für Rollstühle einge-setzt wird? In nur einem Tag entwickelte der Ingenieur einen Algorithmus, der dieses neugartige Feature in die Steuersoftware integriert. Mit Simulink und dem UECU-Blockset konnte er den Algorithmus testen und eine funktionierende Version erzeugen, bevor der Patient das Krankenhaus verließ. Ohne das UECU-Blockset hätte er dazu mindestens eine Woche gebraucht.

Die UECU in der Forschung

Die UECU dient derzeit vornehmlich der Wiederherstellung der Beweglichkeit von Extremitäten. Einige Forschergruppen nutzen sie aber auch zur Entwicklung weiterer Einsatzmöglichkeiten. Ein graduierter Medizintechnik-Student hat beispielsweise mit Simulink und der UECU ein experimentelles Programm zur Blasenkontrolle entwickelt. Da für Tests nur eine begrenzte Anzahl von UECUs zur Verfügung steht, modellierte, simulierte und testete er die Steuerlogik komplett in Simulink. Als schließlich Hardware für ihn frei wurde, konnte er das Modell in nur einer Stunde erfolgreich auf die echte UECU übertragen.

Eine andere Gruppe von Studenten im Aufbaustudium hat mit der UECU einen Detektor entwickelt, der spürt, wenn ein Gegenstand aus der Hand rutscht. Mit piezoelektrischen Sensoren und in einer in Simulink entwi-ckelten Signalverarbeitung ausgestattet, kann ein solcher Schlupfdetektor wichtige Rückmeldungen an Patienten geben, die kein Gefühl in den Händen haben.

Weitere Verbesserung der Lebensqualität

Mit der UECU können die klinischen Ar-beitsgruppen der Case Western University immer ausgefeiltere Anwendungen aufbauen und so ihren Patienten immer umfang-reichere Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung stellen. So lassen sich beispielsweise zwei Implantate mit nur einem Controller steuern. Mit ihrer Rapid Prototyping-Umgebung haben die Ingenieure neuro-prothetische Anwendungen für viele verschiedene Verletzungsarten erzeugt. Über 30 UECUs werden derzeit von Patienten genutzt.

Für die Zukunft ist ein DSP-Modul geplant, das die Rechenleistung der UECU deutlich steigert und damit die Verarbeitung anspruchsvollerer Aufgaben ermöglicht.

In den nächsten fünf bis zehn Jahren sollen die UECU zusammen mit den jeweiligen Implantaten durch vollständig implantierbare Systeme ersetzt werden. Patienten hätten so die Möglichkeit, sich ganz natürlich zu bewegen und auch an Orten von der Stimulation zu profitieren, die ihnen heute noch verschlossen sind, etwa beim Duschen oder Schwimmen. Es existieren bereits Labor-Prototypen des neuen Systems, auf denen mit Simulink und Real-Time Workshop erzeugte Programme laufen.

Veröffentlicht 2008 - 91625v00

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