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Ein Schweizer Ingenieurteam entwickelt das Lüftungssystem für den längsten Eisenbahntunnel der Welt

Von Reto Buchmann, Pöyry Infra AG


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Mit seiner Eröffnung im Jahr 2016 wird der 57 Kilometer lange Gotthard-Basistunnel (GBT) ein wichtiger Teil des europäischen Hochgeschwindigkeits-Schienennetzes sein. Er wird den Norden und Süden der Schweizer Alpen miteinander verbinden und die Reisezeit von Zürich nach Mailand von dreieinhalb auf zweieinhalb Stunden verkürzen. In der von drei Unternehmen gebildeten Ingenieurgemeinschaft Gotthard-Basistunnel Süd war die Pöyry Infra AG für die Entwicklung des Lüftungssystems verantwortlich. Diplomingenieur Reto Buchmann und sein Team nutzten MATLAB-basierte strömungsmechanische Modelle, um das System optimal auf den Normal-, Wartungs- und Notfallbetrieb abzustimmen.
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Eingang des GBT in Bodio

Neben der Schaffung angenehmer Arbeitsbedingungen für das Betriebspersonal muss das Ventilationssystem des GBT vor allem die sichere Evakuierung von Passagieren im Notfall garantieren. Sollte es in einem der Eisenbahntunnel brennen, so erhöht es den Luftdruck in der nicht betroffenen Röhre, um diese rauchfrei zu halten. Die Passagiere können sich dann an einer der Nothaltestellen an den beiden Multifunktionsstationen oder durch einen der vielen Querschächte in die unter Überdruck stehende Röhre retten.

Eine besondere Herausforderung für Buchmanns Team bestand darin, dass die Hilfsschächte in den Orten Sedrun und Faido eine Doppelfunktion haben. Zur Beschleunigung der Vortriebsarbeiten bilden diese Schächte in der Bauphase zusätzliche Tunneleingänge, nach Eröffnung des Tunnels dienen sie als Lüftungsschächte.

Zudem wurden einige der Anforderungen, etwa die in den Querschächten aufrecht zu erhaltenden Temperaturen, im Projektverlauf mehrfach verändert. Die Entwicklungsstrategie musste daher die vorgegebenen Parameter einhalten, aber auch auf geänderte Anforderungen reagieren können.

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Die Entwicklungsmethoden

Voraussetzung für die Entwicklung des geforderten Systems war das Verständnis des aero- und thermodynamischen Verhaltens der Luft in den Tunnelröhren und den verschiedenen Schächten. Angesichts der Größe und Komplexität der Tunnelgeometrie war der Bau eines maßstabsgetreuen Modells zu Testzwecken von vornherein auszuschließen. Simulationen waren somit der einzig gangbare Weg.

Diese Simulationen mussten viele komplexe und schwer abschätzbare Randbedingungen berücksichtigen, etwa die Wärmeübertragung zwischen Luft und Tunnelwand, die Felstemperatur, den Grundwasserfluss und die Verdampfung und Kondensation von Wasser. Wegen des sich stetig ändernden Verhaltens des Gesamtsystems mussten die Simulationen zeitabhängig sein und außerdem Variantenstudien gestatten, da einige Randbedingungen, beispielsweise die Felstemperatur, mit großen Unsicherheiten behaftet waren.

Es war also die Luftströmung in dem gesamten, 154 km langen System aus Tunneln und Schächten zu modellieren. Nur so ließ sich zum Beispiel ermitteln, welche Leistung das Lüftungssystem aufweisen muss, um die Fluchtwege mit Sicherheit rauchfrei zu halten.

Entwicklung eines eigenen CFD-Programms

Standard Softwarepakete für die numerische Strömungsmechanik (Computational Fluid Dynamics, CFD) waren nicht ausreichend flexibel und erweiterbar und hätten das Team gezwungen, das Ventilationssystem als dreidimensionales Problem zu modellieren. Die enorme Länge aller Schächte und Tunnel hätte so ein Modell mit einer fast unbeherrschbaren Zahl von Elementen ergeben. Die Simulation auch nur eines Szenarios hätte damit Wochen gedauert.

Die Ingenieure lösten dieses Problem durch Entwicklung eines eigenen CFD-Modells in MATLAB, das auf einem Standard-PC etwa zwei Stunden Laufzeit benötigt – also ein Bruchteil der bei Einsatz eines vorgefertigten Programmpakets benötigten Zeit bei gleicher Genauigkeit. Druckverluste durch Eigenheiten der Lüftungsklappen und Ventilatoren wurden mittels Look-Up-Tables oder Funktionen auf der Basis experimenteller Daten implementiert, was die Rechenzeit verkürzte und gleichzeitig die Simulationsgenauigkeit erhöhte. Im MATLAB-Modell lässt sich außerdem der Tunnel auf seine Länge als einzige relevante Dimension reduzieren - dies stellt einen erheblichen Effizienzgewinn dar. (Breite und Höhe des Tunnels sind gegenüber seiner Länge vernachlässigbar und beeinflussen das Simulationsergebnis nur wenig.)

Mit vordefinierten Funktionen aus MATLAB wie Look-Up-Tables, Interpolationen und Gleichungslösern konnten die Ingenieure den Programmcode in kurzer Zeit entwickeln und umsetzen. Gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen, die in der Strömungsmechanik eine wichtige Rolle spielen, ließen sich mit MATLAB sehr einfach aufstellen und berechnen. MATLABs Datenimport- und -export-Funktionen sowie Statistikfunktionen erleichterten zudem die Verarbeitung und Interpretation der anfallenden Ergebnisse. Auch die erforderlichen Visualisierungen konnte das Team mit dreidimensionalen Oberflächenplots und Konturdiagrammen aus MATLAB erstellen (Abb. 1).

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Abb. 1: MATLAB-Visualisierung von Lufttemperatur und –feuchtigkeit im Jahresverlauf.

Zwei Algorithmen für die Strömungsmechanik

Um möglichst effizient zu arbeiten, nutzt der CFD-Code für jedes zu berechnende Gebiet einen anderen Algorithmus. Die Modellierung der Luftströmung in den Schächten und Tunnelröhren erfolgte mit der Methode der finiten Elemente. Die Wärmeübertragung im Umgebungsgestein dagegen wird mit finiten Differenzen berechnet. Die für beide Methoden benötigten Gleichungssysteme wurden mit der Optimization Toolbox gelöst.

Das Modell für die Luftströmung berechnet die zeitliche und räumliche Verteilung von Geschwindigkeit, Temperatur und Luftfeuchtigkeit im gesamten Ventilationssystem. Der Massefluss im Schacht wird durch die Randbedingung bestimmt, dass die Luftdichte konstant und die Luftströmung eindimensional ist. Die aerodynamischen Grundgleichungen, die Masseerhaltung und die Zustandsgleichung für ideale Gase reduzieren sich damit auf eine einzige Gleichung zur Masseerhaltung.

Im Modell der Wärmeübertragung zwischen Fels und Lüftungsschächten reduzieren sich die drei Gleichungssysteme im Luftströmungsmodell auf eine einzige Fourier-Wärmeleitungsgleichung. Beide Modelle sind schließlich über den Wärmeaustausch zwischen Luft und Schachtwand miteinander gekoppelt.

Simulation des Modells

Die fertigen MATLAB-Modelle dienten als Grundlage für die Iteration des Entwurfs. In einer der Simulationen wurden Lufttemperatur und -feuchtigkeit an verschiedenen Orten im Tunnel beobachtet (Abb. 2). Da das Umgebungsgestein nur langsam reagiert, wurden vier Betriebsjahre simuliert. Im Laufe der Zeit verliert sich der Einfluss der Anfangstemperatur des Gesteins. Der jährliche Rhythmus der Außentemperaturen an den Schachteingängen ist zudem immer in etwa gleich.

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Abb. 2: MATLAB-Diagramm der Schwankung von Luft- und Wandtemperaturen über vier Jahre.

Mit diesen Erkenntnissen wurden die Klimasysteme für die technischen Einrichtungen in Sedrun und Faido entworfen. Dazu wurden zwei verschiedene Lüftungsstrategien simuliert, eine mit hohem und eine mit niedrigem Luftdurchsatz. Die Ergebnisse zeigten, dass die Temperaturschwankungen bei geringem Luftfluss schwächer ausfallen. In weiteren Simulationen wurde die Leistung der Lüfter in verschiedenen Notfallsituationen getestet, darunter ihre Fähigkeit, in jeweils einer der Tunnelröhren in drei Minuten einen ausreichenden Überdruck aufzubauen.

Nutzen der Simulation

Ohne genaue Simulationen der Strömungsmechanik wäre die Entwicklung eines sicheren Lüftungssystems für den Tunnel nicht möglich gewesen. Konventionelle CFD-Programme hätten die Entwicklungszeit verdoppelt. Mit MATLAB dagegen konnte der Tunnel schnell und exakt simuliert und so ein System entwickelt werden, das den Komfort und die Sicherheit von Passagieren und Personal garantiert.

Die nächste anstehende Herausforderung wird die Übertragung der nun bewährten Luftströmungsmodelle von MATLAB nach Simulink sein, in dem der Regelungsalgorithmus für das Lüftungssystem des GBT entwickelt wird.

Der Gotthard-Basistunnel

Der GBT ist Teil des Schweizer AlpTransit-Projekts (auch Neue Eisenbahn-Alpentransversale, NEAT, genannt), zu dem ebenfalls der Lötschberg-Basistunnel gehört. Bisher wurden etwa zwei Drittel der Tunnellänge durch den Berg getrieben.

Wie heute bereits der Lötschberg-Tunnel soll der GBT eine direkte, für Hochgeschwindigkeits- und Schwerlastzüge mit bis zu 4.000 Tonnen Gesamtgewicht geeignete Verbindung bilden. Auf der alten Strecke sind 2.000 Tonnen die Obergrenze.

Die beiden einspurigen Tunnelröhren sind alle 325 Meter durch eingebaute Querpassagen verbunden, so dass jede Röhre als Fluchtweg für die andere genutzt werden kann. Zwei Multifunktions-Stationen in Sedrun und Faido werden die Lüftungseinrichtungen und die technische Infrastruktur beherbergen und als Nothaltepunkte sowie Evakuierungswege dienen.

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Die Pöyry Infra AG gehört zur weltweiten Pöyry-Gruppe. Das in Zürich ansässige Unternehmen ist spezialisiert auf den Tunnelbau und projektiert elektromechanische Systeme, Lüftungs- und Sicherheitssysteme, Verkehrswege, Umweltmaßnahmen, Hoch- und Tiefbau sowie Vermessungen.

Veröffentlicht 2007 - 91476v00

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