Technische Artikel

Steuerung von Elektronenstrahlen im International Linear Collider

Von Glen White, University of London


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Wie ist das Universum wirklich entstanden? Was ist eigentlich Gravitation? Was ist Dunkle Materie? Gibt es noch mehr Dimensionen?

Der International Linear Collider (ILC) soll Physiker der Beantwortung dieser wichtigen Fragen ein Stück näher bringen. Das Projekt wird seit 15 Jahren von Wissenschaftlern und Ingenieuren auf der ganzen Welt vorangetrieben und der Collider könnte bereits im Jahre 2016 in Betrieb gehen. Der ILC ist eine hochkomplexe Anlage mit 20.000 Beschleunigerelementen auf einer Länge von 20 Kilometern, in der Elektronen und Positronen mit Kollisionsenergien von bis zu 1000 Giga-Elektronenvolt aufeinanderprallen.

Die Teilchenstrahlen fliegen fast mit Lichtgeschwindigkeit und sind dabei nur etwa fünf Nanometer dick – schon die kleinste Störung kann sie aus der Bahn bringen. Die Auslegung des ILC muss daher alle denkbaren Erdbewegungen berücksichtigen, von Erdbeben über die Gezeitenkraft des Mondes bis hin zu Erschütterungen durch Züge und Autos.

Glen White, Teilchenphysiker am Queen Mary-College der Universität London, entwirft und entwickelt die Rückkopplungssysteme, die die Strahlen bündeln und durch den Collider leiten werden. In diesem Artikel erklärt er, wie er mit Hilfe vielfältiger Simulationen und Hochleistungsrechnern die Algorithmen für die Abstimmung, Bündelung und Rückkopplung an realitätsgetreuen Modellen testet.

Um einen Teilchenstrahl eng gebündelt in den Kollisionspunkt zu steuern, müssen extrem exakte Algorithmen, die den Strahl ausrichten und abstimmen, in einem verteilten Rückkopplungssystem zusammenwirken. Mit MATLAB und Simulink werden die dazu benötigten Steuersysteme entwickelt, der ILC als Gesamtsystem modelliert und die Flugbahn der Teilchenstrahlen sowie deren Wechselwirkung mit Zehntausenden von Magnetelementen simuliert.

Kollidierende Winzlinge

Die Teilchenstrahlen im Beschleuniger sind tausendmal dünner als ein menschliches Haar. Sie exakt auf Kurs und in Form zu halten, ist technisch äußerst anspruchsvoll und stellt hohe Anfor­derungen an die Genauigkeit und die Toleranzen aller Komponenten. Im ILC sollen einmal Bündel aus je 20 Milliarden Teilchen miteinander kollidieren – alle 300 Nanosekunden treffen Züge aus je 3000 solcher Bündel im Kollisionspunkt ein. Die ersten Pakete verfehlen einander in der Regel aufgrund von Erdbewegungen. Die erzielbare Kollisionsrate hängt bei diesem ausgeprägt nichtlinearen Prozess in hohem Maße von der Form der Pakete ab. Die Aufgabe bestand in der Entwicklung der Hochgeschwindigkeits-Elektronik und der Korrektursysteme, die zur Ausrichtung der Strahlen und damit zur Sicherstellung einer optimalen Kollisionsrate nötig sind. Kein anderes Beschleunigerprojekt hat bislang so hohe Anforderungen gestellt.

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Der Tunnel für den geplanten ILC ist eine gerade Betonröhre, die 10 bis 30 m unter der Erde liegt und einen Innendurchmesser von etwa 5 m hat. Abbildung: DESY Hamburg. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Modellierung des Gesamt­systems des ILC

In den 15 Jahren seit Projektbeginn haben Forscher auf der ganzen Welt an Modellen für die verschiedenen Komponenten des Linear Colliders gearbeitet, wie etwa den Strahlerzeugungs-Systemen, den Beschleu­nigersektionen und den Teilen, die die Strahlen für die Kollision vorbereiten. Einige Modelle sind in MATLAB geschrieben, viele aber in anderen Sprachen wie C und C++. Bevor die Algorithmen für die Ausrichtung der Teilchenstrahlen entwickelt werden konnten, musste man erst alle diese Einzelmodelle kombinieren und das Gesamtsystem simulieren. Dies war das erste Mal, dass alle Modelle in dieser Form zu einem Gesamtmodell zusammengefügt wurden – auch diese Aufgabe war ein Novum des ILC-Projekts.

Peter Tannenbaum hat in MATLAB die grundlegenden Algorithmen für die Teilchenverfolgung geschrieben, mit denen der Transport des Strahls durch den ILC simuliert wird. Sämtliche Systemdaten, etwa die Stärke jedes einzelnen Magneten, sind in einem einzigen, strukturierten Zell-Array untergebracht. Auf dieses Array werden MATLAB-Routinen angewandt, die als Steuerfunktionen dienen und unter anderem die Feldstärken der Magneten verändern. Auf einer tieferen Ebene wurden mit Hilfe von MEX-Files C-Routinen eingebaut, die besonders rechenintensive Aufgaben übernehmen und beispielsweise dafür sorgen, dass der Strahl auf einer exakten Bahn durch alle Einzelelemente geleitet wird.

Vielfache Simulation des Kollisionsprozesses

Mit Simulink simulieren die Wissenschaftler, wie sich der Strahl durch sämtliche Beschleunigersysteme bewegt. Bei jeder einzelnen Simulation, „Seed” genannt, schicken sie 600 Teilchenpakete aus jeweils 80.000 Teilchen zweimal durch den 20 km langen Strahltunnel. Dabei werden jedes Mal sämtliche möglichen Erdbewegungen berücksichtigt.

Verschiedene Monte-Carlo-Simulationen modellieren zufällige Geräteschwankungen und Toleranzabweichungen. Diese Simulationsreihen werden mit allen denkbaren Systemkonfigurationen wiederholt, um zum bestmöglichen Gesamtentwurf zu gelangen.

Auf einem aktuellen Rechner dauert die Simulation einer Seed zwei bis drei Tage. Je Systemkonfiguration werden in der Regel 100 Seeds ausgewertet.

Beschleunigung der Simulation

Die Verfolgung tausender Pakete aus Millionen von Teilchen ist eine extrem anspruchsvolle Simulationsaufgabe. Um dieses Volumen zu beherrschen benötigt man eine Umgebung, in der man viele Seeds parallel zueinander simulieren und dabei gleichzeitig alle Ergebnisse und die zugehörigen Parametersätze im Auge behalten kann.

Die Distributed Computing Toolbox ermöglichte die Einrichtung einer solchen Umgebung auf dem High-Throughput Cluster des Queen Mary-College. In diesem System aus 384 CPUs holt sich ein Dämon-Prozess selbstständig neue Jobs aus einer von den Forschern gefütterten Datenbank. Die Toolbox schickt jeden Job mit Hilfe eines Maui-Schedulers und eines Portable Batch-Systems an einen anderen Prozessor im Cluster. Die Simulationsergebnisse und –parameter werden automatisch in der Datenbank gespeichert.

Mit Hilfe dieser Umgebung ist es möglich, alle 100 Seeds für eine Systemkonfiguration in der gleichen Zeit abzuarbeiten wie eine einzelne Seed auf einem Single-CPU-Rechner.

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Simulation der Kollision zweier Teilchenpakete. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Test der Algorithmen mit echten Instrumenten und Einrichtungen

Zur Zeit werden unsere Algorithmen in der Accelerator Test Facility (ATF) in Tsukuba, Japan getestet. Die ATF ist ein realer Teilchenbeschleuniger, der die Flugbahn des Strahls bestimmt und seine Position an jedem Punkt misst. Zur Verarbeitung der von den ATF-Geräten aufgezeichneten Positionssignale dient ein Signalverarbeitungs-Board von Lyrtech, das auf einem VirtexII-FPGA von Xilinx basiert. Die FPGA-Logik wird mit dem Xilinx System Generator und einem von Lyrtech für dieses Board gelieferten Blockset programmiert. In Simulink kann man so zunächst das Rückkopplungsmodell im ILC-Modell testen und dann die gleiche Logik in das Lyrtech-Board einprogrammieren, um das Modell am Testbeschleuniger mit einem echten Strahl zu überprüfen. Die Kommunikation mit den A/D- und D/A-Wandlern bzw. dem FPGA des Lyrtech-Boards geschieht mit Real-Time Workshop über einen Onboard-DSP-Chip von Texas Intruments.

Bei diesen Tests, die noch einige Monate dauern werden, dient die Instrument Control Toolbox zur Steuerung der Signalgeneratoren, zur kontinuierlichen Erfassung der Strahlposition und zur Aufzeichnung diagnostischer Hardware-Informationen, die unter anderem von Tektronix-Oszilloskopen mit hoher Bandbreite geliefert werden. Am Ende jedes Testlaufs werden die gesammelten Daten in MATLAB analysiert, um die Steuerungsalgorithmen weiter zu verfeinern.

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Der High-Throughput Cluster des Queen Mary-College. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Gespanntes Warten auf den einsatzbereiten ILC

Gegen Ende dieses Jahres soll ein Bericht mit einem Referenzentwurf erscheinen, der die Blaupause für den Bau des ILC darstellt. Teilchenphysiker auf der ganzen Welt warten nun auf ein internationales Finanzierungsabkommen und auf die Einleitung des Verfahrens zur Standortwahl. Und natürlich warten sie gespannt darauf, dass in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehnts der erste Strahl durch den ILC geschickt wird

Veröffentlicht 2006 - 91415v00

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