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Bell Helicopter entwickelt den ersten zivilen Schwenkrotor

Von Jack Wilber, MathWorks


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„Als Luftfahrtingenieur begleitet man selten eine Idee von einem leeren Blatt Papier bis hin zum Jungfernflug“, so Tom Brooks, Chefingenieur bei Bell Helicopter Textron. Doch genau diese Chance bekamen Brooks und seine Kollegen, als sie mit der BA609 das weltweit erste und schnellste kommerzielle Fluggerät mit Schwenkrotoren entwarfen und bauten.

Die BA609 kann senkrecht starten und landen wie ein Hubschrauber, hat aber die Flugeigenschaften eines Turboprop-Flugzeugs und unterscheidet sich somit von allen anderen zivilen Fluggeräten, die bislang entwickelt wurden. Am Anfang standen die Konstrukteure daher vor deutlich mehr Fragen als Antworten. Wie konnte man bereits vor dem ersten Testflug sicher sein, dass das System genau so funktionierte wie vorgesehen? Würde die Redundanz ausreichen, um die strengen Anforderungen an Sicherheit und Flugverhalten zu erfüllen? Konnte man das Leergewicht niedrig genug halten, um auch abgelegene Bohrinseln in der Nordsee und im Golf von Mexiko zu erreichen? Konnte ein ziviler Schwenkflügler leise und bequem genug sein, um auch Führungskräfte zu befördern?

Um diese vielen Unbekannten beherrschen zu können, setzte das Entwicklungsteam der BA609 in hohem Maße auf Modelle, Simulationen und Analysen. Die BA609 hatte dadurch lange vor ihrem ersten Start eine Vielzahl von Entwurfs-Iterationen durchlaufen, die auf mehr als 1000 Teststunden durch Piloten im BA609-Simulator und auf dem speziellen “Iron Bird”-Prüfstand basierten.

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Die BA609 im Flugzeugmodus. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Entwurf nach Anforderungen

Obgleich die BA609 für mittelgroße Starr- und Drehflügler konzipiert ist, verfügt sie über ein breites Spektrum an möglichen Einsätzen. Infolgedessen waren die Anforderungen an die Konstruktion entsprechend stringent und umfangreich. Das Modell BA609 sollte den erforderlichen vertikalen Auftrieb und die notwendige Geschwindigkeit, Flughöhe und Reichweite bieten und gleichzeitig ein optimales Ansprechverhalten gewährleisten sowie die Arbeitsbelastung des Piloten minimieren.

Nachdem die entsprechenden Kriterien festgelegt worden waren, begannen die Systemingenieure von Bell mit der Phase der System- und Funktionsanalyse. In dieser frühen Entwicklungsphase spielten Simulationen eine entscheidende Rolle, da sie es dem Team ermöglichten, verschiedene Luftfahrzeugkonfigurationen im Rahmen von Architekturstudien zu evaluieren.

Entwicklung gemäß Anforderungen

Die BA609 ist ein mittelschwerer Transporter, der sowohl im Hubschrauber- als auch im Flugzeugmodus betrieben werden kann, und hat daher eine breite Palette von Einsatzmöglichkeiten. Entsprechend streng und umfassend waren die Entwurfsanforderungen. Die BA609 musste ausreichend vertikalen Auftrieb sowie eine hohe Geschwindigkeit, Flughöhe und Reichweite aufweisen, sollte im konventionellen Betrieb leicht zu fliegen sein und den Piloten deutlich entlasten.

Direkt nach Definition der Anforderungen begannen die Systemingenieure bei Bell mit der System- und Funktionsanalyse. In diesem Frühstadium waren Simulationen von zentraler Bedeutung, da diese es dem Team erlaubten, verschiedene Konfigurationen und Architekturen gegeneinander abzu­wägen. Ausgehend von einigen einfachen Grundannahmen wurden die allgemeine Charakteristik und das Flug­steuerungs­system (Flight Control System, FCS) der BA609 in Simulink modelliert. Das fertige Modell wurde simuliert, um mögliche Alternativen miteinander zu vergleichen. David King, der Leiter der analytischen Integration für das Projekt, betont: „Um effektiv über die Konfi­guration eines Flugzeugs entscheiden zu können, muss man iterativ arbeiten. Es war für diese Art des Rapid Proto­typing ein enormer Vorteil, dass wir mit Simulink Veränderungen schnell durchführen und simulieren konnten.“

Verfeinerung des Entwurfs

King und seine Kollegen analysierten eingehend alle Baugruppen und Regelungs­algorithmen. Dabei werteten sie auch aus, wie die BA609 mit ihrer hantelförmigen Gewichtsverteilung auf Turbulenzen reagiert. Da die Motormasse sich an den Flügelspitzen befindet, hat die BA609 mehrere Aeroelastizitäts-Modi (Zustände, die die strukturelle Stabilität unter wechselnden aerodynamischen Belastungen aufrecht erhalten). Die Bell-Ingenieure statteten das FCS-Feedbacksystem mit Filtern aus, die Schwingungen dämpfen und somit auch bei Turbulenzen für ausreichende Stabilitätsreserven sorgen sollen. Diese Filter wurden mit MATLAB® und der Control System Toolbox entwickelt und implementiert. Für die anschließenden Verifikationstests wurden außerdem zu erwartende Filterausgaben erzeugt. Neben den üblichen Spezifikationen übergab Bell Helicopter auch ausführbare Simulink®-Modelle an seine Zulieferer. Bell konnte dadurch die Anforderungen klarer vermitteln, und die Zulieferer konnten ihre Software im Vorfeld der Lieferung an Bell eingehend testen.

Codegenerierung für Tests und Zertifikation

Auch die Systemtests des Baseline-Codes für das FCS stützten sich großenteils auf
Simulationen. Die Ingenieure generierten den FCS-Code für diese Simulationen auto­matisch mit Real-Time Workshop®. Dann verglichen sie die Ergebnisse des auto­matisch erzeugten Codes mit dem Programmcode, der auf der FCS-Hardware lief, und überprüften und validierten so das Systemverhalten, bevor die ersten Flugtests durchgeführt wurden. Die Simulink-Modelle, die die funktionalen Aspekte der Software beinhalten, sind Teil des Pakets, das Bell an die Federal Aviation Administration zur Zertifizierung der BA609 übergibt. Dies geschieht nach dem von europäischer und amerikanischer Seite akzeptierten DO-178B-Standard - Level A für die Steuersoftware von Flugzeugen. Laut King haben die Simulink-Modelle und der automatisch generierte Code noch einen weiteren Vorteil: “Um die Anforderungen für eine Zertifizierung nach Level A zu erfüllen, brauchten wir eine unabhängige Version des FCS, die Eingaben verarbeitet und Aktuatorbefehle ausgibt. Der Code, den wir automatisch mit Real-Time Workshop erzeugt haben, ist genau diese unabhängige Version, womit die Anforderung schon erfüllt ist.”

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Systementwicklung der BA609. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Test des FCS auf dem „Iron Bird”

Mit Simulink und Real-Time Workshop erzeugte das BA609-Team eine komplette HIL-Testumgebung, die auch ein physikalisches Modell der BA609 enthält. Mit Hilfe dieses „Iron Bird“ können die Testingenieure die Echtzeitfähigkeiten des FCS untersuchen. Ebenso wichtig ist jedoch, dass die Piloten auf diesem Prüfstand mit den echten Steuerelementen arbeiten und mit allen wichtigen Flugsystemen vom Cockpit aus interagieren können. Sie „fliegen“ dabei nach simulierten Anzeigen aber mit echter Ausrüstung wie einem Steuerknüppel und Force-Feel-Systemen. Der Steuerknüppel sendet Fly-by-Wire-Signale, nach denen die Steuerrechner die Aktuatoren bewegen. Der Simulator berechnet dann die Aerodynamik, die Motordynamik und andere Metriken, bevor er über Sensoreingaben Rückmeldung an die FCCs gibt.

Auf dem Iron Bird schulen sich die Piloten auf dem System vor den Flugtests. Bell beabsichtigt, ein ähnliches System zur Ausbildung von Zivilpiloten einzusetzen. Ein detailgetreuer Flugsimulator, auf dem Piloten ihre Flugberechtigung für die BA609 erwerben, muss alle Einzelheiten, von den aeroelastischen Eigenschaften bis hin zum Wetter und zur Haftung der Startbahn, simulieren können. „Das ist eine große Aufgabe“, meint King. „Ein zentraler Teil davon wird die Entwicklung von Simulationen mit MathWorks-Werkzeugen sein.“

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Erster Start der BA609. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Der Jungfernflug

An einem Morgen im März 2003 saßen King und seine Kollegen im Telemetrieraum des Bell Flight Research Center in Arlington (Texas). Sie hatten mit nicht viel mehr als einem leeren Blatt Papier angefangen und den ersten zivilen Schwenkrotor der Welt entworfen, modelliert und simuliert. Strenge Simulationen hatten das Vertrauen des Teams so weit gestärkt, dass nun alle relativ ruhig blieben – bis die BA609 abhob. „Ich war verblüfft, wie stabil sie war”, erinnert sich Brooks. „Für mich war es einmalig. Zum ersten Mal hatte ich ein Projekt von Null an bis zum ersten Flug begleitet. Es nur ‘aufregend’ zu nennen wäre eine Untertreibung.“ Die BA609 verhielt sich perfekt und die Testpiloten konnten im ersten Monat neun Flüge mit insgesamt 14 Flugstunden absolvieren. King bemerkt dazu: „Durch die Simulationen und die schnellen Iterationen konnten wir alle Unbekannten weitgehend eingrenzen und sicherstellen, dass wir auch bei Überraschungen über genügend Reserven verfügten, um das Testflug-Programm sicher weiterzuführen – und es mit noch nie dagewesener Effizienz abzuarbeiten.“

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Bells HIL-Prüfstand mit seinen drei Flight Control-Computern, elektro-hy­draulischen Aktuatoren sowie Geräten zur Ausübung simulierter Belastungen auf die Aktuatoren. Zum Vergrößern auf das Bild klicken.

Ein Pionier der zivilen Luftfahrttechnik

Die BA609 startet und landet senkrecht wie ein Hubschrauber. Einmal in der Luft fliegt das neunsitzige Fluggerät wie ein Turboprop – aber fast doppelt so schnell wie ein Hubschrauber. Nach dem Übergang vom Helikopter- in den Flugzeugmodus, der ca. 20 Sekunden dauert, erreicht die BA609 rasch ihre Reise­­geschwindig­keit von 275 Knoten (509 km/h).

Durch ihre Fähigkeit, ohne Start- und Landebahn auszukommen und auch bei Vereisung und in extremem Klima fliegen zu können, gibt es viele Einsatzmöglichkeiten für die BA609, von der Beförderung von Führungskräften über die Öl­exploration und Such- und Rettungsmissionen bis hin zu medizinischen Notalleinsätzen.

Der Jungfernflug des BA609 Schwenkrotors bedeutete gleichzeitig ein Reihe luftfahrttech­nischer Premieren:

  • Erster Antragsteller auf Zertifizierung als “Powered Lift”, einer ganz neuen Kategorie ziviler Fluggeräte.
  • Erster Drehflügler mit Druckkabine.
  • Erster ziviler Drehflügler mit “Fly-by-Wire”-Steuerung.
  • Erstes T-Leitwerk ohne Seitenruder.

Veröffentlicht 2006 - 91406v00

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